Samstag, 13. April 2013

Haruki Murakami: 1Q84 "It’s Only a PaperMoon"

Zur englischen Gesamtausgabe von Vintage Books



In seiner ‚Laufbiographie’ „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen Rede“ äußert sich Murakami voller Bewunderung über sein literarisches Vorbild Dostojewskij wie folgt:

„Die meisten Schriftsteller werden im Alter schwächer und schwächer. Aber nicht Dostojewski. Er wurde immer größer und besser.“

Vielleicht war gerade das der Anlass für den japanischen Popliteraten, der mit Bestsellern wie „Kafka am Strand“ oder „Naokos Lächeln“ auf der ganzen Welt gefeiert wird,  noch einmal alles bisher Geschriebene übertrumpfen zu wollen. Ergebnis ist der etwas über 1300 Seiten lange Roman „1Q84“: eine Tour de Force, sowohl für den Autoren, der es im Jahr 2009 zu schreiben begann, als auch für den Leser, ein surreales Mammutwerk und womöglich das Magnum Opus Murakamis?


Erzähltechnisch bleibt „1Q84“ dem Großteil seiner Vorgänger treu, d.h. zwei Erzählstränge berichten Abwechselnd von dem Leben der Protagonisten, in diesem Fall Aomame und Tengo. Aomame hilft als Auftragskillerin einer einflussreichen Witwe, Selbstjustiz an Männern zu üben, die Gewalt gegen ihre Frauen ausüben. Tengo, ein Nachhilfelehrer mit schriftstellerischen Ambitionen, bekommt von seinem Freund und Redakteur Komatsu den Auftrag, das originelle aber dilettantisch geschriebene Erstlingswerk der 17-jährigen Fuka-Eri zu überarbeiten, um dieses zu einem Bestseller zu machen.
Die Haupthandlung des Romans beginnt, nachdem Tengo Fuka-Eris „Puppe aus Luft“, so der Titel ihrer Geschichte, vollständig überarbeitet hat. Danach gerät die Welt aus den Fugen, Charaktere verschwinden, seltsame Interessenten treten auf den Plan und eine dubiöse Sekte, deren Geheimnisse scheinbar, ohne Tengos Wissen, im Text verborgen liegen, wird zur Gefahr für die Protagonisten. Plötzlich wird aus Fiktion Realität und ein zweiter, grünlicher Mond ziert den Nachthimmel. Hinter all der Verwirrung sollen die „Little People“ genannten Wesen, die heimlich die Fäden des dubiosen, neuen Weltenbaus ziehen.

"Little People are watching you"
An George Orwells dystopischen Klassiker “1984” ist der Titel des Romans, “1Q84”, angelehnt. Was aber hat es mit dem Q auf sich? Es handelt sich hierbei lediglich um ein japanisches Wortspiel, denn die Zahl 9 wird auf Japanisch „kyu“ ausgesprochen und ist homophon mit dem aus dem Englischen übernommenen Buchstaben Q. Zudem steht das Q für „question“ und wird von Aomame benutzt um die Parallelwelt, in die sie gewechselt ist, zu bezeichnen. Murakami schreibt wie Orwell auch über das Jahr 1984, wie es hätte sein können. An die Stelle von „Big Brother“ treten die zwergenhaften „Little People“. Auch das ist nur ein Wortspiel, denn thematisch steht der Roman mit „1984“ in keinem Zusammenhang. Stattdessen arbeitet Murakami dieses Mal auf fiktionaler Ebene die Problematik des Sektenkults auf, mit der er sich erstmals in seiner Interviewsammlung „Underground“ bezüglich des von der Aum-Sekte initiierten Giftgasangriffs im Jahr 1995 beschäftigt hat. Überdies handelt der Roman von alternativen Realitäten, dem Konflikt zwischen Kindern und Eltern und letzlich einer schicksalhaften Liebe.

Der Musterjapaner

Murakami wird im Westen gefeiert, sogar als Anwärter auf den Literaturnobelpreis angesehen. Und immer wieder betonen Kritiker wie mysteriös, einzigartig und unverständlich die japanische Literatur sei. Gleichzeitig heißt es, auch westliche Leser würden sich in seinen Werken nicht fremd fühlen.
Ein kleiner Vergleich macht es deutlich: auf Heike Monogatari und 3-4 Mal das Wort Manga folgen Bach, Janáček, Tscheschow, Proust, Kafka, Dostojewskij, sogar der Esso-Tiger taucht auf. Der inflationäre Bezug auf westliche Musiker, Autoren, etc. verdeutlicht an der Oberfläche, dass Murakami selbst wesentlich westlicher ist, als es oft in Kritiken heißt, die auf den japanischen Lokalkolorit seiner Werke verweisen. Das „Mysteriöse“ in seinen Romanen, die den Leser in der Regel perplex vor unbeantworteten Fragen zurücklassen, ist ebenso wenig dem Japanischen, sondern viel mehr Autoren wie Kafka, einem weiteren Vorbild Murakamis, entlehnt. Vieles weitere lässt sich auf Murakamis persönlichen, westlich geprägten Stil zurückführen. Was aber ist typisch japanisch an diesem Roman?
Typisch japanisch ist z.B. die Geschichte von Tengos Vater, einem Fernsehsteuereintreiber der NHK, dem japanischen Staatsfernsehen, der seinen Beruf und seine Firma höher wertschätzt als alles andere. Selbst im Koma liegend geht sein Bewusstsein weiterhin der Arbeit nach. Seine Vergangenheit verschweigt er und nimmt sie mit ins Grab. Er wird in seiner Arbeitsuniform verbrannt.

Raskolnikow ohne Sonja
Nicht die sprachliche Ausdruckskraft sondern seine Erzähltechnik und insbesondere die Charaktere machen Murakamis Romane lesenswert. Auch dieses Mal treten allerhand kuriose Gestalten auf. Da wäre die autistisch anmutende Fuka-Eri, die kaum lesen kann, aber makellos Stellen der Matthäus-Passion auf Deutsch rezitiert.  Ihre Geschichte „Puppe aus Luft“ wird von Tengo überarbeitet aber unter dem Namen Fuka-Eri veröffentlicht. Sie wird sozusagen zu einer japanischen Helene Hegemann gemacht. Ebenso rätselhaft und nicht minder interessant erscheinen der enigmatische Sektenführer, der die Auftragsmörderin Aomame um Erlösung bittet, und der homosexuelle Bodyguard Tamaru, der aus Korea stammt und von einem Zitat C.G. Jungs fasziniert ist.
Zuletzt sei Ushikawa erwähnt, der auf doppelte Weise frischen Wind in Murakamis Prosa bringt: zum einen fügt er erstmals einen dritten Erzählstrang zum gewohnten Geflecht zweier Erzählperspektiven, zum anderen verwendet Murakami hier einen Charakter aus einem vorigen Werk erneut. Der Vorzeige-Unsympath, bekannt aus „Mister Aufziehvogel“, ist gefangen zwischen dem Gefühl der Überlegenheit und der eigenen Minderwertigkeit, ein Raskolnikow, der seine Sonja nie gefunden hat, wie er anmerkt. Zudem bezeichnet er sich als Antithese von Tengo, dem obligatorischen Murakami-Protagonisten.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Aomames Dialog mit dem Sektenführer, ein Cliffhanger am Ende des zweiten Buches und das Aufeinandertreffen von Tamaru und Ushikawa sind die wohl atmosphärisch dichtesten Momente des Buches, was auf 1300 Seiten gerechnet ein sehr geringer Prozentsatz ist. Nicht, dass es unerwartet wäre, bei der Lektüre Murakamis viele Seiten über Charaktere zu lesen, die selbst Bücher lesen, Musik hören oder gefühlte Ewigkeiten in einem Brunnen sitzen, aber „1Q84“ wirkt als hätte der Autor auf Sparflamme geschrieben. „Ein Buch ohne ein Gramm Fett zu viel” heißt es in der Kritik der Süddeutschen und das stimmt auch. Die Lektüre liegt nicht schwer im Magen. Im Gegenteil, die ständigen Wiederholungen sind unnötig und langweilen zunehmend. Man hätte 300 Seiten wegkürzen können, ohne etwas Wesentliches auszulassen.
So erscheint es beinahe ironisch als Leser Aomame zu beobachten, die sich Kapitel um Kapitel durch Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kämpft.
Auch in puncto Surrealismus wirkt „1Q84“ blass und einfallslos im Vergleich zu Vorgängern wie „Kafka am Strand“. Man denke nur an Johnny Walker, der Katzen köpft, um aus ihren Seelen Flöten herzustellen. Verglichen damit wirkt Tengos Haschisch-Rausch mit einer Krankenschwester und das folgende Gespräch über Reinkarnation erstaunlich nüchtern.
Der Zauber Murakamis, der mich an seine Romane fesselte und weit über den Buchdeckel hinausging, ist mir wahrscheinlich auf einer der zahlreichen Durstrecken verloren gegangen.

Fazit:
„1Q84“ ist sicherlich nicht Murakamis Magnum Opus, es sei denn man schätzt Quantität höher als Qualität ein.Dass Kritiker hierzulande kaum noch negativ Bewerten, ist ein Punkt, in dem ich Literaturpapst/polemiker Reich-Ranicki durchaus zustimmen kann.
Eingefleischte Murakami-Fans werden dem Roman sowieso eine Chance geben, Murakami-Neulingen aber lege ich „Kafka am Strand“, „und „Hardboiled-Wonderland und das Ende der Welt“ ans Herz, vor allem letzteres ist für Einsteiger optimal geeignet.
Bleibt nur zu hoffen, dass Murakamis neuester Roman, der am 12. April in Japan veröffentlicht wurde, und dessen Titel in der englischen Übersetzung „Colorless Tasaki Tsukuru and the Year of His Pilgrimage“ lautet, mit seinen 370 Seiten (im jap. Original) auch inhaltlich komprimierter ist als sein Vorgänger. Ein Bestseller wird’s so oder so.