In seiner
‚Laufbiographie’ „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen Rede“ äußert sich Murakami
voller Bewunderung über sein literarisches Vorbild Dostojewskij wie folgt:
„Die meisten Schriftsteller werden im Alter schwächer und schwächer. Aber nicht Dostojewski. Er wurde immer größer und besser.“
Vielleicht
war gerade das der Anlass für den japanischen Popliteraten, der mit Bestsellern
wie „Kafka am Strand“ oder „Naokos Lächeln“ auf der ganzen Welt gefeiert wird, noch einmal alles bisher Geschriebene übertrumpfen
zu wollen. Ergebnis ist der etwas über 1300 Seiten lange Roman „1Q84“: eine
Tour de Force, sowohl für den Autoren, der es im Jahr 2009 zu schreiben begann,
als auch für den Leser, ein surreales Mammutwerk und womöglich das Magnum Opus
Murakamis?
Erzähltechnisch bleibt „1Q84“ dem Großteil seiner Vorgänger treu, d.h. zwei Erzählstränge berichten Abwechselnd von dem Leben der Protagonisten, in diesem Fall Aomame und Tengo. Aomame hilft als Auftragskillerin einer einflussreichen Witwe, Selbstjustiz an Männern zu üben, die Gewalt gegen ihre Frauen ausüben. Tengo, ein Nachhilfelehrer mit schriftstellerischen Ambitionen, bekommt von seinem Freund und Redakteur Komatsu den Auftrag, das originelle aber dilettantisch geschriebene Erstlingswerk der 17-jährigen Fuka-Eri zu überarbeiten, um dieses zu einem Bestseller zu machen.
Erzähltechnisch bleibt „1Q84“ dem Großteil seiner Vorgänger treu, d.h. zwei Erzählstränge berichten Abwechselnd von dem Leben der Protagonisten, in diesem Fall Aomame und Tengo. Aomame hilft als Auftragskillerin einer einflussreichen Witwe, Selbstjustiz an Männern zu üben, die Gewalt gegen ihre Frauen ausüben. Tengo, ein Nachhilfelehrer mit schriftstellerischen Ambitionen, bekommt von seinem Freund und Redakteur Komatsu den Auftrag, das originelle aber dilettantisch geschriebene Erstlingswerk der 17-jährigen Fuka-Eri zu überarbeiten, um dieses zu einem Bestseller zu machen.
Die
Haupthandlung des Romans beginnt, nachdem Tengo Fuka-Eris „Puppe aus Luft“, so
der Titel ihrer Geschichte, vollständig überarbeitet hat. Danach gerät die Welt
aus den Fugen, Charaktere verschwinden, seltsame Interessenten treten auf den
Plan und eine dubiöse Sekte, deren Geheimnisse scheinbar, ohne Tengos Wissen,
im Text verborgen liegen, wird zur Gefahr für die Protagonisten. Plötzlich wird
aus Fiktion Realität und ein zweiter, grünlicher Mond ziert den Nachthimmel.
Hinter all der Verwirrung sollen die „Little People“ genannten Wesen, die heimlich
die Fäden des dubiosen, neuen Weltenbaus ziehen.
"Little People are watching you"
An
George Orwells dystopischen Klassiker “1984” ist der Titel des Romans, “1Q84”,
angelehnt. Was aber hat es mit dem Q auf sich? Es handelt sich hierbei
lediglich um ein japanisches Wortspiel, denn die Zahl 9 wird auf Japanisch „kyu“
ausgesprochen und ist homophon mit dem aus dem Englischen übernommenen
Buchstaben Q. Zudem steht das Q für „question“ und wird von Aomame benutzt um
die Parallelwelt, in die sie gewechselt ist, zu bezeichnen. Murakami schreibt
wie Orwell auch über das Jahr 1984, wie es hätte sein können. An die Stelle von
„Big Brother“ treten die zwergenhaften „Little People“. Auch das ist nur ein
Wortspiel, denn thematisch steht der Roman mit „1984“ in keinem Zusammenhang.
Stattdessen arbeitet Murakami dieses Mal auf fiktionaler Ebene die Problematik
des Sektenkults auf, mit der er sich erstmals in seiner Interviewsammlung
„Underground“ bezüglich des von der Aum-Sekte initiierten Giftgasangriffs im
Jahr 1995 beschäftigt hat. Überdies handelt der Roman von alternativen
Realitäten, dem Konflikt zwischen Kindern und Eltern und letzlich einer
schicksalhaften Liebe.
Der Musterjapaner
Murakami
wird im Westen gefeiert, sogar als Anwärter auf den Literaturnobelpreis
angesehen. Und immer wieder betonen Kritiker wie mysteriös, einzigartig und
unverständlich die japanische Literatur sei. Gleichzeitig heißt es, auch
westliche Leser würden sich in seinen Werken nicht fremd fühlen.
Ein
kleiner Vergleich macht es deutlich: auf Heike Monogatari und 3-4 Mal das Wort
Manga folgen Bach, Janáček, Tscheschow, Proust, Kafka, Dostojewskij, sogar der
Esso-Tiger taucht auf. Der inflationäre Bezug auf westliche Musiker, Autoren,
etc. verdeutlicht an der Oberfläche, dass Murakami selbst wesentlich westlicher
ist, als es oft in Kritiken heißt, die auf den japanischen Lokalkolorit seiner
Werke verweisen. Das „Mysteriöse“ in seinen Romanen, die den Leser in der Regel
perplex vor unbeantworteten Fragen zurücklassen, ist ebenso wenig dem
Japanischen, sondern viel mehr Autoren wie Kafka, einem weiteren Vorbild
Murakamis, entlehnt. Vieles weitere lässt sich auf Murakamis persönlichen,
westlich geprägten Stil zurückführen. Was aber ist typisch japanisch an diesem
Roman?
Typisch
japanisch ist z.B. die Geschichte von Tengos Vater, einem Fernsehsteuereintreiber
der NHK, dem japanischen Staatsfernsehen, der seinen Beruf und seine Firma
höher wertschätzt als alles andere. Selbst im Koma liegend geht sein
Bewusstsein weiterhin der Arbeit nach. Seine Vergangenheit verschweigt er und
nimmt sie mit ins Grab. Er wird in seiner Arbeitsuniform verbrannt.
Raskolnikow ohne Sonja
Nicht
die sprachliche Ausdruckskraft sondern seine Erzähltechnik und insbesondere die
Charaktere machen Murakamis Romane lesenswert. Auch dieses Mal treten allerhand
kuriose Gestalten auf. Da wäre die autistisch anmutende Fuka-Eri, die kaum
lesen kann, aber makellos Stellen der Matthäus-Passion auf Deutsch rezitiert. Ihre Geschichte „Puppe aus Luft“ wird von
Tengo überarbeitet aber unter dem Namen Fuka-Eri veröffentlicht. Sie wird
sozusagen zu einer japanischen Helene Hegemann gemacht. Ebenso rätselhaft und
nicht minder interessant erscheinen der enigmatische Sektenführer, der die
Auftragsmörderin Aomame um Erlösung bittet, und der homosexuelle Bodyguard
Tamaru, der aus Korea stammt und von einem Zitat C.G. Jungs fasziniert ist.
Zuletzt
sei Ushikawa erwähnt, der auf doppelte Weise frischen Wind in Murakamis Prosa bringt: zum
einen fügt er erstmals einen dritten Erzählstrang zum gewohnten Geflecht zweier
Erzählperspektiven, zum anderen verwendet Murakami hier einen Charakter aus
einem vorigen Werk erneut. Der Vorzeige-Unsympath, bekannt aus „Mister
Aufziehvogel“, ist gefangen zwischen dem Gefühl der Überlegenheit und der
eigenen Minderwertigkeit, ein Raskolnikow, der seine Sonja nie gefunden hat,
wie er anmerkt. Zudem bezeichnet er sich als Antithese von Tengo, dem
obligatorischen Murakami-Protagonisten.
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
Aomames
Dialog mit dem Sektenführer, ein Cliffhanger am Ende des zweiten Buches und das
Aufeinandertreffen von Tamaru und Ushikawa sind die wohl atmosphärisch
dichtesten Momente des Buches, was auf 1300 Seiten gerechnet ein sehr geringer
Prozentsatz ist. Nicht, dass es unerwartet wäre, bei der Lektüre Murakamis
viele Seiten über Charaktere zu lesen, die selbst Bücher lesen, Musik hören
oder gefühlte Ewigkeiten in einem Brunnen sitzen, aber „1Q84“ wirkt als hätte
der Autor auf Sparflamme geschrieben. „Ein Buch ohne ein Gramm Fett zu viel”
heißt es in der Kritik der Süddeutschen und das stimmt auch. Die Lektüre liegt
nicht schwer im Magen. Im Gegenteil, die ständigen Wiederholungen sind unnötig
und langweilen zunehmend. Man hätte 300 Seiten wegkürzen können, ohne etwas Wesentliches
auszulassen.
So
erscheint es beinahe ironisch als Leser Aomame zu beobachten, die sich Kapitel um
Kapitel durch Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kämpft.
Auch
in puncto Surrealismus wirkt „1Q84“ blass und einfallslos im Vergleich zu
Vorgängern wie „Kafka am Strand“. Man denke nur an Johnny Walker, der Katzen
köpft, um aus ihren Seelen Flöten herzustellen. Verglichen damit wirkt Tengos
Haschisch-Rausch mit einer Krankenschwester und das folgende Gespräch über Reinkarnation
erstaunlich nüchtern.
Der
Zauber Murakamis, der mich an seine Romane fesselte und weit über den
Buchdeckel hinausging, ist mir wahrscheinlich auf einer der zahlreichen
Durstrecken verloren gegangen.
Fazit:
„1Q84“
ist sicherlich nicht Murakamis Magnum Opus, es sei denn man schätzt Quantität
höher als Qualität ein.Dass Kritiker hierzulande kaum noch negativ Bewerten,
ist ein Punkt, in dem ich Literaturpapst/polemiker Reich-Ranicki durchaus
zustimmen kann.
Eingefleischte
Murakami-Fans werden dem Roman sowieso eine Chance geben, Murakami-Neulingen
aber lege ich „Kafka am Strand“, „und „Hardboiled-Wonderland und das Ende der
Welt“ ans Herz, vor allem letzteres ist für Einsteiger optimal geeignet.
Bleibt
nur zu hoffen, dass Murakamis neuester Roman, der am 12. April in Japan
veröffentlicht wurde, und dessen Titel in der englischen Übersetzung „Colorless
Tasaki Tsukuru and the Year of His Pilgrimage“ lautet, mit seinen 370 Seiten
(im jap. Original) auch inhaltlich komprimierter ist als sein Vorgänger. Ein
Bestseller wird’s so oder so.